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Kleidervorschriften für "Sitte und Anstand"

Esther Meier, 29.08.2017

Im Juni 2014 reichte der St.Galler Kantonsrat Mike Egger (SVP) die Motion Volksschule : Bekleidungsvorschriften klar regeln ein. Egger, der sich bis dahin politisch v.a. mit der Forderung für ein Kopftuchverbot an den St.Galler Schulen zu profilieren versuchte, erweiterte den Katalog darin um "provokative politische oder gewaltverherrlichende Symbole" und "aufreizende Sommerbekleidung".[i] Über seine Motivation dahinter und sein Verständnis von "unziemlicher Bekleidung" gab der Präsident der St.Galler JSVP zwei Tage später in der Gratiszeitung 20 Minuten Auskunft: Zum Beispiel "ganz kurze Hotpants", die seine Vision einer Schweiz, in der "wieder vermehrt Sitte und Anstand herrsche", offenbar bedrohen.[ii] Gewisse islamophoe Teile der SVP scheinen sich mit ähnlichen Sorgen wie die islamistischen Taliban herumzuschlagen; unter dem Talibanregime sorgte das "Ministerium für Sitte und Anstand" dafür, dass sich keine afghanische Frau ungestraft mit unziemlicher Kleidung auf der Strasse blicken liess.

 

Die Sehr Veministische Partei (SVP)

"Lustig, den einen sagen sie, man dürfe sich nicht verhüllen, die anderen wollen sie verhüllen", kommentierte ein Leser treffend.[iii]  Oder frei nach Foucault: Erlaubt ist nur das, was konform ist.[iv] Weniger lustig ist dabei die Tatsache, dass sich die angeführten Beispiele ausschliesslich auf weibliche Kleidungsstücke beziehen, wie mir auch das Adjektiv "aufreizend" noch nie im Zusammenhang mit männlicher Kleidung begegnet ist. (Sollte ich hier falsch liegen, freue ich mich über die Einsendung entsprechender Beispiele.)

Gleichzeitig werden diese Versuche einer gesetztlichen Normierung dessen, was frau tragen darf und was nicht, mit den heehren Sorgen um den "Gleichstellungsgedanken" und - im Falle des Kopftuches - die die SVP so störende Unterdrückung der (natürlich nur: muslimischen) Frau gerechtfertigt. Trägt frau zu wenig, gefährdet sie "Sitte und Anstand" in unserem Land - trägt sie zu viel, gefährdet sie die Gleichberechtigung. Das Kopftuch und nicht die Lohnungleichheit unterminiert die Gleichstellung der Geschlechter; Hotpants und nicht die Schweizer Waffenexporte und die inhumane Flüchtlingspoltik gefährden "Sitte und Anstand" in unserem Land. Die Bedeutung, um nicht zu sagen Macht, die weiblicher Kleidung damit zugeschrieben wird, ist lächerlich und mit der Argumentation der radikalen Moslems, die für einen Zwang zur Verhüllung eintreten, im Grundsatz identisch.

 

"Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun!"

Das Recht auf Selbstbestimmung ist eines der zentralen Elemente des Liberalismus', auf dem gerade Werte und Forderungen der linken und feministischen Bewegungen ganz wesentlich basieren. Welchen Stellenwert das Recht auf Selbstbestimmung in unserer Gesellschaft hat, zeigt sich u.a. daran, dass jeder Mensch sogar das Recht hat, sich selbst zu schaden oder zu gefährden. Genau das, was wir beispielsweise RaucherInnen und ExtremsportlerInnen attestieren, nämlich die Mündigkeit, selbst über sich und ihre Körper zu entscheiden, wird aber oft genug auch von linker Seite den Frauen, die ein Kopftuch oder eine Burka tragen, abgesprochen. "Keine Frau trägt freiwillig eine Burka!" Nun ja, würde man nicht auch annehmen, dass ein Mensch teures Geld für Zigaretten ausgibt, damit er oder sie sich dann mit 50 die krebszerfressene Lunge aus dem Leib husten kann. Selbstbestimmung setzt gerade NICHT voraus, dass irgendjemand anders oder die Mehrheit der Gesellschaft meine Entscheidung verstehen und absegnen muss. Jedenfalls sofern keine anderen Personen zu Schaden kommen.

Selbstbestimmung setzt Emanzipation voraus. Emanzipation (lat., emancipatio) bezeichnete in der Antike die Freilassung von Sklaven durch ihre HerrInnen. Während hier eine höher- einer niedrigergestellten Person Freiheit gewährte, wandelte sich die Begriffsbedeutung mit der Aufklärung und bezeichnete fortan den Akt der "Selbstbefreiung" aus einem Abhängigkeits- und Vormundschaftverhältnis. Nur wer emanzipiert ist, kann selbstbestimmt handeln! Aber ob jemand emanzipiert ist, lässt sich schwerlich am Resultat von Entscheidungen ableiten. Als Gradmesser für die Emanzipation, müsste das Vorhandensein von Wahlmöglichkeiten dienen. Wer eine lange Strasse ohne Abzweigungen entlanggeht, der kann nicht entscheiden. Auch wer auf eine Kreuzung trifft, wo jeder abzweigende Pfad von einem riesigen Drachen bewacht wird, der mich – sollte ich diesen Weg trotzdem wählen – mit fast 100% Wahrscheinlichkeit zerfleischen würde, kann nicht entscheiden, bzw. nur zwischen dem einen vorgebenen Weg und dem sicheren Tod. Das Problem: Sowohl das Burka- oder Kopftuchverbot, wie auch die Verschleierungspflicht, sind ebensolche Drachen. Was passiert ist nicht mehr, als dass man den Drachen der Religion auf der linken Abzweigung durch den Drachen des Staates auf der rechten Abzweigung ersetzt.

 

Wir Kreuzritter

Die Forderung nach dem staatlichen Zwang ist nur unter der Prämisse verständlich, dass die muslimische Frau von uns – vom Westen – aus den Fängen ihrer patriarchalen Religion befreit werden muss.[v] Charakteristisch sind die Geschlechterbilder, die unsere Debatte über den (radikalen) Islam prägen: Ein strenggläubiger Moslem mit Vollbart und traditioneller Bekleidung wird tendenziell als gefährlicher (Atten-)Täter wahrgenommen, die strenggläubige Muslima mit Burka dagegen als wehrloses Opfer – so als ob (religiöser) Extremismus den Männern vorbehalten wäre und sich nicht auch Frauen für den IS in die Luft sprengen würden.

Seit Jahrhunderten dient(e) der Orient und seine BewohnerInnen als Ort, dem all die Eigenschaften des modernen Europas – Vernunft, Dynamik und Fortschritt – vermeintlich abgehen. Diese Konstruktion versichert(e) uns nicht nur unsere zivilisatorische Überlegenheit und Identität durch Abgrenzung, sondern legitimiert(e) auch die kolonialistischen und imperialistischen Ansprüche der westlichen Grossmächte.[vi] Indem der "Orient" nun zu uns kommt, stellt er somit tatsächlich eine Bedrohung für unsere Identität dar, aber eben gerade nicht – wie RechtspopulistInnen behaupten – wegen der Andersartigkeit, sondern aufgrund der Ähnlichkeiten, die den "Orient" als konzeptionelles Gegenstück zur westlichen Gesellschaft gefährden.

Die Absicht des Westens, den Orient und seine BewohnerInnen "zu befreien", war in der älteren und insbesondere der neuesten Geschichte für die Betroffenen oft mehr Fluch als Segen. Insofern scheint mir, dass die Debatte um die "Frau im Islam" primär eine Stellvertreterdebatte ist, in welcher der Westen sein jahrhundertealtes Orientbild reproduziert und sich seiner weiteren Gültigkeit versichert. Oder wie es die auf Genderfragen spezialisierte Islamwissenschafterin Rifa'at Lenzin formulierte: "In der Debatte der europäischen Mehrheitsgesellschaft um die Frau im Islam geht es nicht darum, die tatsächliche oder vermeintliche Unterdrückung der Musliminnen zu bekämpfen, sondern vielmehr darum, sie stets von Neuem festzustellen."[vii]

 

Gegen die einheimischen Drachen!

Lasst euch also nicht in die Irre führen von unseren heimischen Sittenwächtern, die im "Orient" ihre feministische Gesinnung wiederentdeckt haben. Es gibt genug einheimische Drachen ihren "orientalischen" Artgenossen oft genug nicht unähnlich  gegen die wir unsere Energie richten sollten, anstatt sie mit Symbolpolitik auf dem Buckel unserer muslimischen Schwestern zu vergeuden.

 

Anmerkung: Die Verfasserin hegt ebensowenig Sympathien für die Burka wie für das Burkaverbot, Gölä oder überlaut telefonierende Mitpassagiere im Zug. Völlig unverständlich findet sie aber die Hysterie wegen Kopftüchern und die Tatsache, dass sich auch linke ExponentInnen gelegentlich zu islamophoben Forderung hinreissen lassen. 



[i]Egger, Mike. Volksschule: Bekleidungsvorschriften klar regeln, St.Gallen 02.06.2014.

[ii]Glaus, N.. JSVP will Miniröcke und Hotpants verbieten, in: 20 Minuten, 05.06.2014.

[iii]Kommentar zu Ebd.

[iv]Foucault, Michel. Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M. 1976: 231. Im Original: "Strafbar ist alles, was nicht konform ist."

[v]Jegher, Stella; Fischer, Rahel. Kleidervorschriften, Religionsfreiheit und das Selbstbestimmungsrecht der Frauen, in: Olympe. Feministische Arbeitshefte zur Politik 31/2010, 42-51: 50.

[vi]Said, Edward W.. Orientalismus, Frankfurt a. M. 2010: 238-268.

[vii]Lenzin, Rifa'at. Der andere Blick: Die Genderfrage aus islamischer Sicht, in: Olympe. Feministische Arbeitshefte zur Politik 31/2010, 14-20: 16.

Über die Autorin

Esther Meier

Ich möchte die Zukunft der Schweiz mitgestalten. Gerade bei so wichtigen und wegweisenden Entscheidungen wie die der Energieversorgung sollten die Jungen ihre Meinung einbringen können.

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