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Das Dilemma der medialen Skandalbewirtschaftung

Martin Neukom, 27.06.2015

Medien bewirtschaften Skandale, denn es steigert ihre Umsätze. Immer mehr Menschen beklagen jedoch die Kurzlebigkeit und den Qualitätsverlust in den Medien. Wie dieses Dilemma zustande kommt und warum die gängigen Betrachtungsweise der individuellen Perspektive und der Appelle nicht funktioniert.

Die Kritik an den Medien ist in der breiten Öffentlichkeit angekommen. So widmet die neuste Ausgabe der ZEIT dem Thema die Titelstorry „Alles Lügen?“. Beschrieben darin ist die öffentliche Kritik an der teilweisen einseitigen Berichterstattung, wie anfangs beim Iraq-Krieg oder beim Konflikt in der Ukraine. Beim Absturz der German-Wings Maschine gab es offenbar so viele Beschwerden beim deutschen Presserat, wie noch nie. Die Medien suchen den Skandal und publizieren so schnell es geht. Dabei geht Qualität und „Wahrheit“ flöten, doch es steigert den Umsatz. Offenbar wollen die Leser ja den Skandal. Ein interessantes Paradoxon.
 
Wie kommt dieses Paradoxon zustande? Wer sagt: "die Menschen wollen halt einfach Skandale sehen“, der hat zu schnell eine zu einfache Antwort gefunden. Denn teilweise sind das die gleichen Menschen, die den Qualitätsverlust beklagen oder sich sogar zu Bezeichnungen wie „Lügenpresse“ verleiten lassen. Laut einer Umfrage der Zeit haben 60% der Befragten „wenig bis gar kein Vertrauen in die Medien“.
Ich persönlich interessiere mich normalerweise nicht sonderlich für Skandale. Aber ich kenne bei mir selber einen ähnlichen Effekt, wenn es ums weibliche Geschlecht geht. So erwische ich mich immer wieder, wie ich einen Artikel lese oder einer Werbung Aufmerksamkeit schenke, aus dem einzigen Grund, weil eine attraktive Frau darauf abgebildet ist. Natürlich weiss ich, dass dies eine Strategie ist um Aufmerksamkeit zu erzeugen. Sex sells. Und doch funktioniert sie auch bei mir. Dies obwohl ich das eigentlich äusserst doof finde. Ich spekuliere hiermit, dass es sich bei den Skandalen ähnlich verhaltet. Die Menschen lesen es und klicken millionenfach auf die Newsticker, obwohl sie die Skandal-Bewirtschaftung grösstenteils ablehnen. Das tönt nach einem Widerspruch. Doch die menschliche Psyche ist hoch widersprüchlich.
 
Bei der Diskussion über mögliche Lösungen im Spannungsfeld zwischen Skandal/Geschwindigkeit und Recherche/Qualität tappt die Mehrheit in eine alt-bekannte Falle. Es ist die gleiche Falle, wie bei diversen anderen politischen Themen: eine individuelle anstatt einer systemische Betrachtung.

Individuelle versus systemische Betrachtung
Unsere Gesellschaft neigt heute dazu, die Welt auss der Betrachtung des Individuums zu beschreiben. Dies zeigt sich darin, dass heute die Studienrichtung Psychologie beliebter ist als Soziologie und mehr Menschen sich für Betriebswirtschaft interessieren als für Volkswirtschaft. Die Betriebswirtschaft beschäftigt sich damit, wie sich eine einzelne Firma in einem marktwirtschaftlichen System am besten organisiert. Im Gegensatz versucht die Volkswirtschaft zu verstehen, wie sich eine gesamte Wirtschaft verhält. Die politisch Rechten argumentieren auch häufig aus einer individuellen Perspektive. Als Individuum zahlt man nicht so gerne Steuern. Danach aber in der Bildung zu sparen, ist in der Regel in einer Betrachtung für die ganze Gesellschaft wenig sinnvoll.
 
Nun zurück zur Diskussion um die Medien. Hier wird argumentiert werden, die Menschen müssten halt wieder mehr Zeitungen kaufen, die keine Skandale bringen. Und die Journalisten müssen halt ihre Prioritäten wieder anders setzen. Solch und ähnliche Appelle werden wir in Zukunft wohl noch häufig hören. Ich persönlich bin der Ansicht, dass Appelle kaum je ein Problem gelöst haben und wohl auch keines lösen werden. Denn Appelle haben immer einen individuellen Charakter. Eine Betrachtung des gesamten Systems ist hier zielführender. Wir erkennen also an, dass Menschen gleichzeitig die Skandalbewirtschaftung kritisieren und trotzdem sich durch Skandale verführen lassen. Wir erkennen ebenfalls an, dass Zeitungen Skandale verwenden, weil es ihre Absätze erhöht, was sie andererseits bitter nötig haben in Anbetracht ihrer wirtschaftlich schwierigen Situation.
Betrachtet man die eben beschriebene System-Charakterisik als richtig, kommt man zum Schluss, dass ein marktwirtschaftliches organisiertes System vermutlich zwangsläufig so funktionieren muss. Genau hier zeigt sich, warum Appelle, die sich gegen die Eigendynamik des Systems richten, wirkungslos sind. Die Eigendynamik eines Systems ist stets stärker als die individuelle Verantwortung. Auf keinen Fall soll dies aber so interpretiert werden, dass Menschen eben keine gesellschaftliche Verantwortung übernehmen wollen. Wenn die Hälfte der Medien keine Skandale mehr pushen würden, werden die Menschen wohl zu der anderen Hälfte der Medien wechseln, weil Skandale eben verführerischer sind und sich besser verkaufen.
 
Lösungsansätze
Ich habe einige Ideen und Ansätze, wie dieses Medien-Dilemma angegangen werden könnte. Vorerst aber eine Bemerkung zum ideologischen Umfeld. Ich anerkenne, dass die neoliberale Ideologie, die den unregulierten Markt als beste Lösung für alle Probleme betrachtet, nach wie vor in vielen Köpfen stark verankert ist. Dies muss bei einer Diskussion über Lösungen im Hinterkopf behalten werden, falls es nicht um einen abgehobenen Besserwisser-Ansatz geht. ;)
 
1. Presserat: Der Presserat müsste so ausgestaltet werden, dass er Sanktionsmöglichkeiten hat. Analog zu der Werbung könnte man das Prinzip „Lauterkeit“ übernehmen. Der Presserat würde journalistische Fehlgriffe nicht mehr bloss rügen, sondern sanktionieren. Betroffen wären grobe Verletzungen der Sorgfaltspflicht, nachweislich falsche Zitate oder Verletzung der Sperrfristen.
 
2. Transparenz: Parlamentarier müssen an vielen Orten ihre Interessensbindung angeben. Dies verhindert die Interessenpolitik zwar nicht, aber sie macht sie zumindest transparent. Ähnliches könnte man für Journalisten vorsehen. Jeder Journalist müsste dabei angeben, in welchen Organisationen er oder sie tätig ist. Das Portal Infosperber macht dies bereits konsequent. Des Weiteren müsste die vollständige Finanzierung der Medienkonzerne offengelegt werden. Das Prinzip: „Wer zahlt, befiehlt“, gilt auch in der Medienwelt. Darum ist relevant zu wissen wer zahlt. Offengelegt werden müssten auch, wer wie viel bezahlt für Inserate.
 
3. Um die Konkurrenz etwas zu entschärfen, könnte der Staat die Medien finanziell unterstützen. Dabei wäre ein Modell zu wählen, beim dem die Politik keinen Einfluss hat auf die Verteilung der Gelder. Schliesslich sollen die Medien der Regierung kritisch gegenüber stehen.
 
Die erwähnten Punkte sind mehr als Ideensammlung zu verstehen, denn als politisches Massnahmenpaket. Ich freue mich über kritische Rückmeldungen und weitere Ideen.

Über den Autor

Martin Neukom

Kantonsrat Zürich
Mechatronik-Ingenieur
MSc. Solare Energiesysteme

Im September 2012 trat ich als Präsident der Jungen Grünen Schweiz nach 4 Jahren Amtszeit zurück. Seit April 2014 sitze ich im Zürcher Kantonsrat für die Grünen und bin in der Kommission für Planung und Bau (KPB).
Ich arbeite in der Forschung an organischen Sollarzellen und studiere Phot...

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