Martin Neukom, 14.12.2013
Es ist wieder einmal so weit: In der alljährlichen weihnachtlichen Stimmung fühle ich mich wie in einem surealen Film, als Schauspieler, der seine Rolle vergessen hat oder sie nicht spielen möchte. Die Zeit des Jahres ist gekommen nett und anständig zu sein. Man ist grosszügig, macht sich Geschenke, nimmt sich Zeit für seine Freunde und seine Familie, spendet Geld an arme Kinder in Afrika. Tatsächlich ist die Weihnachtszeit für nahezu alle Entwicklungsorganisationen sehr wichtig, da sie in dieser Zeit am meisten Spenden erhalten. Die ganze Stimmung der Frömmlichkeit (muss nicht zwingend im religiösen Sinn gemeint sein) gipfelt in den Neujahrsvorsätzen an allerlei nett anmutenden Taten und Verhaltensweisen fürs nächste Jahr.
Es scheint fast so als führen alle ein sündhaftes Leben voller Schwächen und Boshaftigkeit, das es an Weihnacht zu kompensieren gilt mit Nettigkeit und der guten Absicht sich im neuen Jahr ganz anders zu verhalten. Es mag überspitzt klingen, doch bin ich Jahr für Jahr irritiert ab diesem absurden Schauspiel.
Die Schuld
Das Gefühl der Schuld ist tief in unserer christlich geprägten Kultur verankert. Es scheint ein Moral-Konto zu geben, bei dem Punkte gesammelt werden wie in der Migros. Gute Taten geben positive Punkte und können somit die negativen Punkte (Schuld) kompensieren. Ganz offensichtlich ist das Gefühl stark verbreitet, an Weihnachten möglichst viele positive Punkte sammeln zu müssen. Dies suggeriert bereits, dass dies während dem Jahr zu kurz gekommen ist.
Die Jahreszeit wird benutzt, um sich moralisch rein zu waschen. Man hat sich zuwenig gekümmert um seine Mitmenschen, war zu egoistisch, hat das eine oder andere Mal eine Notlüge verwendet, den Jahrestag schon wieder verpennt, zu viel getrunken und zu viel gearbeitet obwohl man doch mehr Zeit mit den Freunden hätte verbringen wollen. Und sowieso: Die Welt ist schlecht und man lebt darin einfach weiter, ohne was zu ändern.
Falls das was ich hier beschreibe auch nur im Geringsten zutrifft, stellt sich die Frage:
Wieso gelingt es nicht, sich so zu verhalten, wie man es als gut empfindet?
Ist nun die fromme Stimmung der Weihnachtszeit gut, weil sie Gelegenheit bietet genau darüber nachzudenken oder ist sie schädlich, weil sie verhindert sich die richtigen Fragen zu stellen? Mag es sein, dass letzten Endes gerade die unterbewusste Vorstellung von diesem moralischen Konto dazu führt, dass sich nichts verändert?
These
Ich finde es würde dem Menschen gut tun, sich als das zu akzeptieren, was er ist: ein Mensch. Der Mensch ist kein Gott. Er ist schon gar nicht Gottes Ebenbild, sondern bloss ein Tier, welches 98% seines Genmaterials mit einer Affenart namens Bonobo teilt.
Der Mensch ist also weder gut noch böse. Das einzige, was die Menschen und Tiere teilen ist das Empfinden von positiven und negativen Emotionen. Dabei strebt jeder nach den positiven Empfindungen und versucht negative zu vermeiden. Das ist völlig normal. Gutes respektive ethisches Verhalten gründet sich nun darin sein Handeln so anzupassen, dass dies den anderen Menschen auch möglich ist.
Vielleicht ist der Zusammenhang mit der moralischen Schuld-Kompensation der Weihnachtszeit nicht direkt ersichtlich: Der Kern meiner These besteht darin, dass der moralische Vorwurf an sich selber absolut lähmend ist, etwas zu verbessern an sich und der Welt.
Wer sich seine Nicht-Göttlichkeit verzeiht, schafft es eher sich auf das zu konzentrieren, was wirklich zählt: Ethik. Anstatt sich darum zu kümmern, jährlich sein moralischen Konto zu bereinigen, wie das periodische defragmentieren eines Windows-Systems, schafft diese Erkenntnis den Raum für wahre Veränderung.
Interessanterweise bin ich als Religionskritiker und Agnostiker mit dieser These erstaunlich nahe an manch religiöser Aussage.
![]() | Martin Neukom Kantonsrat Zürich |
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Im September 2012 trat ich als Präsident der Jungen Grünen Schweiz nach 4 Jahren Amtszeit zurück.
Seit April 2014 sitze ich im Zürcher Kantonsrat für die Grünen und bin in der Kommission für Planung und Bau (KPB).
Ich arbeite in der Forschung an organischen Sollarzellen und studiere Phot...