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Die 10 Prozent geknackt

Viele von euch mögen sich an den Wahlsonntag im Oktober 2019 erinnern. Die Grünen Schweiz erzielten mit einem Gewinn von 6,18 Prozent und 17 zusätzlichen Sitzen im Nationalrat einen historischen Erfolg. Gut neun Monate später ist die Selects (Swiss Election Study) erschienen, welche die Wahlergebnisse genauer unter die Lupe nimmt.

 

Als angehender Politikwissenschaftlerund interessierter Leser dieser Wahlstudie möchte ich euch die wichtigsten Erkenntnisse in gekürzter Formvorstellen.MiristandieserStellewichtig zu betonen, dass ich nicht alleAspektedieser100-seitigenStudiewiedergeben kann. Aspekte wie dieWähler*innenvolatilität, dieVeränderung der politischen Wertehaltung,die Parteienpolarisierung sowie auchdie Rolle der Medien und der Sozialen Medien werden nicht beleuchtet.Diese Aspekte können gerne in weiteren Artikeln aufgegriffen werden. DieWahlstudie kann selbst heruntergeladenund analysiert werden (siehe Unten).ImFolgendendasWichtigsteinKürze.

 

GrüneSchweiz

 

Den Grünengelang eszum erstenMalinihrerParteigeschichte,diesymbolträchtige Zehn-Prozent-Hürdezu nehmen. Damit löst sie erstmaligmiteinemWähler*innenanteilvon13,2 Prozent (+6,18 Prozentpunkte)die CVP als viertstärksteKraft ab.Ausschlaggebend fürdiesen Erfolgwar die gute Themenlage (Klima- undFrauen *wahl),welchezurMobilisierung neuer Wähler*innengruppenführte. Überraschenderweise nahmenaber 44 Prozent jener, die 2015 grüngewählt hatten, 2019 nicht mehr anden Wahlen teil. Von den restlichen56 Prozent wählten jedoch vier vonfünf Wähler*innen erneut die GrünePartei.RundeinDrittelder2019Grün­Wählenden hatten 2015 ihre Stimmenoch der SP gegeben. Damit stellt dieehemaligeSP-Wähler*innenschaftknapp den grössten Teil des jetzigenGrünen-Elektorats dar. Der Wahler­folgder Grünenistalsonicht aufeine gute Mobilisierung der eigenen Basis zurückzuführen. Bei der jüngeren Wähler*innenschaft haben die Grünen schon immer überdurchschnittlich stark abgeschnitten. Im Vergleich zu 2015 war der Zuwachs in dieser Altersgruppe dennoch enorm: Der Wähler*innenanteil der Grünen stieg bei den 18- bis 34-Jährigen von acht auf 19 Prozent. Unter den 35- bis 54-Jährigen wurde eine Verdoppelung des Grünen-Wähler*innenanteils registriert und bei den über 54-Jährigen beinahe ebenso.

Die typische Wähler*innenschaft der Grünen Schweiz ist jung, weiblich, ledig und konfessionslos. Auch wählen überdurchschnittlich oft Personen mit einer Tertiärbildung sowie einem Migrationshintergrund die Grüne Partei.

Wer die Grünen Schweiz wählt, arbeitet oft im öffentlichen Sektor, bei einer Non­Profit-Organisation oder befindet sich noch im Studium. Bei der Einkommensklasse sind keine eindeutigen Tendenzen sichtbar.

 

SPSchweiz

Die SP ist mit einem Verlust von zwei Prozentpunkten (neu 16,8 Prozent) nach der SVP die zweitgrösste Verliererin der Wahlen 2019 und musste damit das schlechteste Ergebnis seit mehr als 100 Jahren (seit der Einführung der Proporzwahl) hinnehmen. Grundsätzlich konnte die SP ihre Parteibasis gut zur Urne mobilisieren, verlor aber fast einen Viertel ihrer ehemaligen Wähler*innenschaft an die Grünen.

Die typische Wähler*innenschaft der SP Schweiz ist weiblich, konfessionslos sowie unter 45 Jahre oder über 54 Jahre alt. Überdurchschnittlich oft wählen verwitwete Personen die SP Schweiz.
Unter denjenigen Wählenden, die die obligatorische Schule oder eine Anlehre als höchsten Bildungsabschluss angaben, ist die SP übervertreten. Einen ebenfalls hohen Wähler*innenanteil weist die SP bei Personen mit einer Tertiärbildung auf.
Bei der Einkommensklasse ist keine eindeutige Tendenz sichtbar. SP-wählende Personen arbeiten zudem meistens im öffentlichen Sektor, bei einer Non-Profit­ Organisation oder in gemischtwirtschaftlichen Unternehmen wie beispielsweise der Swisscom.

 

GLPSchweiz

Von der Klimawahl konnte die GLPebenfallsprofitieren:Die Parteiverfügt zwar nach wie vor über keineStammwähler*innenschaft.Sokonntesienuretwa64 ProzentderWähler*innenschaftvon2015halten. Zudem wähltenweniger als dieHälfte jener, die im Frühsommer eineGLP-Wahl beabsichtigten, tatsächlichGLP. Profitieren konnte die GLP jedoch von ehemaligen SP- sowie FDP­Wählenden. 16 Prozent ihrer aktuellenWähler*innenschaft bestehtaus ehemaligen SP-Wählenden und zwölf Prozent aus ehemaligen FDP-Wählenden.Beliebt ist die GLP ebenfalls bei derjungen, urbanen Wähler*innenschaft.Die GLP ist ähnlich wie die Grünen imjungen Elektorat ausserordentlich gutverankert. Gegenüber 2015 erzielte siebei 18- bis 34-Jährigen eine VerdoppelungihresWähler*innenanteils

Die typische GLP-Wähler*innenschaft ist eher jung (unter 35 Jahre alt), ledig und konfessionslos. Bei den Geschlechtern ist keine Tendenz sichtbar. Der höchste Bildungsabschluss ist bei GLP-Wähler*innen oftmals eine Tertiärbildung. Interessant ist, dass Wähler*innen der höchsten Einkommensklasse (über 12000 Franken) überdurchschnittlich oft GLP wählen.

 

CVPSchweiz

Für eine weitere Überraschung sorgte die CVP, welche die über Jahre anhaltenden Verluste stoppen konnte. Mit einem Verlust von 0,2 Prozentpunkten (neu 11,4 Prozent) und drei Mandaten weniger konnte die CVP ihre Position knapp über der Zehnprozentmarke stabilisieren. Grund dafür ist die sehr loyale, aber auch alte Stammwähler*innenschaft, welche die Partei gut mobilisieren konnte. Es zeigt sich, dass die Partei wenig attraktiv für Erst- und Wechselwähler*innen ist.

Die typische CVP-Wähler*innenschaft ist eher alt (über 35 Jahre). verheiratet und katholisch . Bei den Geschlechtern wie auch der Einkommensklasse ist keine Tendenz zu erkennen . Unter denjenigen Wählenden, die die obligatorische Schule oder eine Anlehre als höchsten Bildungsabschluss angaben, ist die CVP sehr stark übervertreten.

 

FDPSchweiz

Mit einem Verlust von 1,3 Prozentpunkten (neu 15,1 Prozent) hat die FDP ihr Wahlziel, die SP zu über­ holen, deutlich verfehlt. Der Partei blieben grössere Verluste aufgrund einer relativ treuen und stabilen Wähler*innenbasis erspart. Abwanderungen der FDP-Wähler*innenschaft zur SVP und GLP konnten beobachtet werden. Die FDP ihrerseits konnten jedoch auch ehemalige SVP-Wählende dazugewinnen, welche nun­ mehr neun Prozent ihres Elektorats ausmachen. Einzig bei der weiblichen Wähler*innenschaft zeigten die Freisinnigen Probleme in der Mobilisierung. Nur durchschnittlich schnitt die FDP unter Erstwählenden und gar unterdurchschnittlich unter Neumobilisierten (jenen Wählenden, welche 2015 noch nicht gewählt hatten) ab.

Die typische Wähler*innenschaft der FDP ist tendenziell männlich, alt, verheiratet und protestantisch. FDP-Wählende weisen oftmals ein höheres Bildungsniveau als die Durchschnittsbürger*in aus und arbeiten in der Privatwirtschaft. Zudem sind Wählende der FDP eher in den oberen Einkommensschichten anzusiedeln. So belegen sie in der obersten Einkommensschicht (über 12000 Franken) den ersten Platz.

 

SVP Schweiz

GrössteVerliererinderWahlen2019 istdieSVPmit einem Verlust  von3,8  Prozentpunkten. Dass die Parteinachwievor25,6ProzentderWähler*innenstimmenerhält,verdanktsie einerstabilenundloyalenWähler*innenbasis. Überwältigende 85Prozentderjenigen,die bereits2015SVP gewählt hatten und 2019 wiederuman den Wahlen teilnahmen, legten erneutSVPein.Federnlassenmusstesieaufgrund einer schwachen Mobilisierung ihrer eigenen Wähler*innenbasis.Zum erstenMal in ihrerGeschichtegingen weniger als 50 Prozent der SVP­Anhängerschaft an die Urne. Auch diefürdie SVP ungünstigeThemenlagesorgtefürSitzverluste.DasThemaMi­gration hatte bei den Wahlen 2019 keinegrosseRelevanzbeidenWählenden.

Die typische SVP-Wähler*innenschaft ist männlich und alt. Bei der Konfession lässt sich keine  Tendenz  zwischen  katholisch oder protestantisch erkennen. Wie bei der SP wählen überdurchschnittlich oft verwitwete Personen die SVP. Der höchste Bildungsabschluss ist oftmals eine Berufslehre. Die SVP-Wähler*innenschaft ist zudem in

allen Einkommensschichten anzusiedeln, tendenziell aber eher in den tieferen Einkommensklassen. Zudem arbeitet die SVP­Wähle r*innenschaft in der Privatwirtschaft und hat keinen Migrationshintergrund

 

 

Zusammenfassung

Insgesamt führten die NationalratswahlenzueinerStärkungdeslinkenLagers.GemeinsamverfügenSP, GPS, PdA und SolidariteS über69 Sitze (+14) in der Grossen Kammer. Während sich die gemässigtenKräfte(FDP, CVP,GLP,BDPundEVP)behauptenkonnten(76Sitze,

-1), büssten die Parteien am rechtenRand des ideologischenSpektrums(SVP, EDU undLegal deutlich ein(55 Sitze, -13). Die FraktionenderSVP undder FDP stellen (erfreulicherweise)in der laufenden LegislaturkeineMehrheitmehr.

Die Kleine Kammer wird nach wievor von der CVP (13 Sitze, unverändert) und der FDP (neu 12 Sitze, - 1)geprägt. Die Grünen konnten 4 Sitze(neu5Sitze)dazugewinnen, welche aber zu Lasten der SP (neu 9Sitze,-3)gingen.DerSVPgelangesentgegen dem Wahltrend, einen Sitz(neu6Sitze)dazu zugewinnen.?

 

WahlbeteiligungundFrauenwahl

Im Vergleich zu den Wahlen 2015 (48,5 Prozent) nahm die Wahlbeteiligung 2019 (45,1 Prozent) um 3,4 Prozent ab. Dies ist der dritttiefste Wert seit der Einführung des Frauen­ stimmrechts auf nationaler Ebene . Einzig in der Alterskategorie der 18- bis 24-Jährigen nahm die Wahlbeteiligung zu(+ 3 Prozentpunkte), was mit grosser Wahrscheinlichkeit auf die Mobilisierung der Jugend in Bezug auf die Klimathematik zurückzuführen ist. Die Selects-Wahlstudie zeigt d_eutlich, dass ein Migrationshintergrund im Durchschnitt eine um 16 Prozent tiefere Partizipationsrate zur Folge hat.

Nebst der Klimathematik galt die Wahl 2019 ebenfalls als  Frauenwahl.  Dies stimmt auch - wenn  auch  nur  ein  Teil  der  Ziele erreicht  werden  konnte.  Erfreulich  ist,  dass der Anteil an weiblichen Abgeordneten im  Nationalrat  von  32 auf  42 Prozent  stieg und im Ständerat von 15 auf 26 Prozent. Im Nationalrat bilden die Frauen unter den Neuge­ wählten sogar eine Mehrheit (53 Prozent ). Dieser Anteil ist ein historischer Höchststand gewählter Kandidatinnen  und  zeigt  deutlich,  dass  Frauen  stärker  gewillt  sind,  Frauen zu wählen. Ebenfalls lässt sich eine aktive  Frauenförderung  der  Parteien  beobachten, wenn auch noch stärker bei linken Parteien. Ein Dämpfer ist  jedoch,  dass  auch  2019 immer noch mehr Männer als Frauen an die Urne gehen (49 Prozent Männer, 41 Prozent Frauen). Der Geschlechtergraben («Gender Gap») wurde also nach wie vor nicht über­ wunden. Ebenfalls erstaunlich zu sehen ist, dass das Thema  «Frauenwahl»  im Vergleich zur Thematik «Klimawahl » fast keine Beachtung in den  Medien  fand. Einzig in den Tagen um den Frauenstreik war das Thema in den Medien präsent.

 

EidgenössischeWahlen2019

Wahlteilnahme und Wahlentscheid Herausgeber ist Selects-FORS

https://forscenter.ch/wp-content/uploads/2020/06/selects-studie-2019_de_fin.pdf

 

Dankeschön

Die Beschreibung sowie die Darstellung der Wähler*innenschaft der Schweizer Parteien ist überspitzt dargestellt und entspricht nicht exakt der Aussage in der Selects­Wahlstudie 2019. Für Fragen, Anregungen oder Rückmeldungen steht der Autor gerne zur Verfügung.

Ein herzliches Dankeschön an Matúš (Junge Alternative Zug, Cham) für diese grossartigen und sehr treffenden Karikaturen!

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